Karfreitag, Ostern… auch dieses Jahr wieder, Altes wird neu. Mit Wucht werden uns neue Situationen aufgedrängt, mit Wucht müssen wir neu handeln, unser Denken und Sein überdenken, überarbeiten. Ostern ist für mich immer ein besonderes Fest, weil hier Tod und Werden so nahe beieinander sind und uns diese beiden existenziellen Pole so deutlich vor Augen geführt werden (können).

Derzeit sind so viele gute Texte mit Gedanken und Anmerkungen zu diesen Zeiten, dass ich selber gar nicht Neues hinzufügen möchte. Irgendwann wird es einfach auch zu viel des „Schlau-Daher-Redens“. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn mir etwas zu viel wird, dann schalte ich ab und aus, manchmal stellt sich sogar ein gewisser Widerstand ein. Angesichts der Klasse einiger Texte möchte ich nicht, dass Ihnen dies passiert. Daher möchte ich hier einen Text zitieren, den ich heute Morgen gehört habe und der mir sehr gut getan hat: Hoffnung spricht hieraus, das Entstehen – besser: das Zulassen – eines neuen Menschenbildes. Auch ein Tod und ein Werden… Eine Lesung aus dem Buch „Im Grunde gut“ des niederländischen Historikers Rutger Bregman mit dem Untertitel „Eine neue Geschichte der Menschheit“, das ich heute in der Ostermail von der ZEIT bekommen habe. Der ZEITmagazin-Chefredakteur Christoph Amend liest vor.

Ich habe mal mitgeschrieben, vielleicht möchten Sie lieber selber lesen:

„Im Grunde gut – Dies ist ein Buch über eine radikale Idee. Es ist eine Idee, die Machthabern seit jahrhunderten Angst einjagt, eine Idee, gegen die sich Religionen und Ideologien gewandt haben; über die, die Medien eher selten berichten, deren Geschichte durch eine unaufhörliche Verneinung geprägt zu sein scheint. Gleichzeitig ist es eine Idee, die von nahezu allen Wissenschaftsbereichen untermauert, die von der Evolution erhärtet und dem Alltag bestätigt wird. Eine Idee, die so eng mit der menschlichen Natur verknüpft ist, dass sie kaum auffällt.

Wenn wir den Mut hätten, sie ernst zu nehmen, würde sich herausstellen: diese Idee könnte eine Revolution entfesseln, die Gesellschaft auf den Kopf stellen.
Wenn sie tatsächlich in unsere Köpfe vordränge, dann wäre sie wie eine lebensverändernde Medizin, nach deren Einnahme man nie mehr mit der gleichen Art und Weise auf die Welt blickt.

Worin besteht diese Idee? Dass die meisten Menschen im Grunde gut sind.

Ich kenne niemanden, der diese Idee besser erklären könnte, als Tom Postmes, Professor für Sozialpsychologie in Groningen. Seit Jahren stellt er seinen Studenten immer die gleiche Frage: Ein Flugzeug muss notlanden und bricht in 3 Teilen, die Kabine füllt sich mit Rauch. Allen Insassen ist klar, wir müssen hier raus. … Was passiert? Auf Planet A fragen die Insassen einander, ob es ihnen gut gehe. Personen, die Hilfe benötigen bekommen den Vortritt, die Menschen sind bereit ihr Leben zu opfern, auch für Fremde. Auf Planet B kämpft jeder für sich allein, totale Panik bricht aus, es wird getreten und geschubst. Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen werden niedergetrampelt. Frage: Auf welchem Planeten leben wir? Ungefähr 97% glauben, dass wir auf Planet B leben, sagt Postmes, aber tatsächlich leben wir auf Planet A. …

Selbst die bekanntesten Katastrophen der Geschichte spielten sich auf dem Planeten A ab. Nehmen wir den Untergang der Titanic. Wenn man den berühmten Film gesehen hat, glaubt man, dass alle in Panik gerieten, außer dem Streichquartett. Aber nein, es wurde nicht herumgeschubst oder gezerrt. Ein Augenzeuge berichtete, dass es keine Anzeichen von Panik oder Hysterie gab, keine Angstschreie und kein Hin- und Her-Gerenne.

Oder denken Sie an den 11. September 2001: Tausende von Menschen liefen geduldig die Treppen der Twin-Towers hinunter, obwohl sie genau wussten, dass ihr Leben in Gefahr war. Feuerwehrleuten und Verletzten wurde der Vortritt gewährt. Viele Menschen reagierten auf die Katastrophe mit Sätzen wie „Nein, nein, du zuerst“, erinnerte sich eines der Opfer später. Ich konnte nicht glauben dass die Leute in dieser Situation sagen würden: bitte gehe du zuerst. Es war unwirklich.

Dass Menschen von Natur egoistisch, panisch und aggressiv sind ist ein hartnäckiger Mythos. Der Biologe Frans de Vaal spricht daher von einer Fassadentheorie. Die Zivilisation wäre demnach eine dünne Fassade, die beim geringsten Anlass einstürzen würde. Die Geschichte lehrt uns aber das genaue Gegenteil. Gerade wenn Bomben vom Himmel fallen oder Deiche brechen, kommt das Beste in uns zum Vorschein.

Am 29.08.2005 brachen die Deiche von New Orleans. Der Hurrikan Katrina raste über die Stadt, in der Folge wurden 80% der Häuser überflutet, es war die größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Mindestens 1.836 Menschen kamen ums Leben. In jener Woche waren die Zeitungen voll mit Berichten über Vergewaltigungen und Schiesserein, fürchterliche Geschichten über Gangster, die plündernd durch die Gegend zogen und einen Scharfschützen, der einen Hubschrauber unter Beschuss nahmen. Im Superdome Stadion, dem größten Schutzraum säßen nicht weniger als 25.000 Menschen fest, wie Ratten in der Falle. … Journalisten berichteten, dass die Kehlen von 2 Babys durchgeschnitten und ein 7-jähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet war. Der Polizeichef prognostizierte, dass die Stadt in die Anarchie abgleiten würde und dem Gouverneur von Louisiana schwante dasselbe. „Was mich besonders wütend macht,“ sagten sie, „ist, dass solche Katastrophen oft das Schlechteste in den Menschen zutage fördern.“ Die Schlussfolgerung verbreitete sich über die ganze Welt.

Der renommierte Historiker Timothy Garton Ash schrieb was alle dachten: Man entferne die Grundelemente eines geordneten zivilisierten Lebens, Nahrung, Unterkunft, Trinkwasser, ein Minimum an persönlicher Sicherheit und wir fallen innerhalb weniger Stunden in einen Hobbeschen Urzustand zurück, ein Krieg Jeder gegen Jeden. Einige werden vorübergehend zu Engeln, die meisten wieder zu Affen. …

Erst Monate später, als die Journalisten verschwunden waren, das Wasser abgepumpt war und sich Kolumnisten einem neuen Thema zugewandt hatten, fanden Wissenschaftler heraus, was wirklich in New Orleans stattgefunden hatte.

Die Schüsse des Scharfschützen waren in Wahrheit Ventilgeklapper eines Gastanks, 6 Menschen waren im Superdome Stadion gestorben, 4 auf natürliche Weise, einer an einer Überdosis und einer durch Selbstmord. Der Polizeichef musste zugeben, dass es keinen einzigen offiziellen Bericht über Morde oder Vergewaltigung gab, und tatsächlich, es war viel geplündert worden, aber vor allem von Gruppen, die gemeinsame Sache gemacht hatten, um Überleben zu sichern, manchmal sogar zusammen mit der Polizei.
Wissenschaftler fanden heraus, dass die überwältigende Mehrheit des spontanen Verhaltens pro-sozial geprägt war. Eine Armada an Schiffen war von Texas nach New Orleans gekommen, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Hunderte von Rettungstrupps waren gebildet worden. Eine Gruppe hatte sich Robin Hood Plünderer genannt, 11 Freunde, die Lebensmittel, Kleidung und Medikamente stahlen und verteilten. Kurz gesagt: die Stadt wurde nicht von Egoismus und Anarchie überflutet, die Stadt wurde überspült von Mut und Nächstenliebe.

Katrina entsprach damit dem wissenschaftlichen Bild, wie Menschen auf Katastrophen reagieren. Das Desaster Research Center in der Universität von Delaware hat seit 1963 auf der Grundlage von fast 700 Feldstudien festgestellt, dass – im Gegensatz zu Darstellungen in den meisten Spielfilmen, – nach einer Katastrophe NIE die totale Panik ausbricht und auch keine Welle des Egoismus aufbrandet. Die Zahl der Verbrechen, Mord, Diebstahl, Vergewaltigung nimmt in der Regel ab. Die Menschen bleiben ruhig, geraten nicht in Panik und handeln schnell. Egal, wie viel geplündert wird, stellten die Wissenschaftler fest, es verblasst immer im Vergleich zu dem weit verbreiteten Altruismus, der zu einem großzügigen und umfangreichen Geben und Teilen von Gütern und Diensten führt.

In Notsituationen kommt das Beste im Menschen zum Vorschein. Ich kenne keine andere soziologische Erkenntnis, die gleichermaßen sicher belegt ist und dennoch gänzlich ignoriert wird. Das Bild, das in den Medien gezeichnet wird, ist dem, was nach einer Katastrophe tatsächlich geschieht, diametral entgegengesetzt.“

www.zeit.de/osterzeit

Hören Sie nicht auf das Gegackere der Medien, sie leben von den Klicks, vieles ist zu viel und heischt nach Drama. Hören Sie auf Ihr Herz, öffnen Sie Ihr Herz – lassen Sie es sprechen.

Einen besinnlichen Karfreitag und ein fröhliches Anders-Osterfest, wünsche ich Ihnen!
Herzlich,
Ihre Ann Krombholz

Menschen handeln nach der Krise solidarisch und empathisch

Foto: Das Deckengewölbe des Ulmer Münsters