Sind wir immer „gefangen im Echoraum„, wie ich im letzten Blogbeitrag geschrieben habe? Nein, denn wir können aktiv nach Irritationen suchen, die uns und unsere Sinneseindrücke bereichern. Wir haben die Möglichkeit, unser Erfahrungsspektrum zu erweitern – sogar vom Sofa aus – sofern wir diese zulassen; selbst im Lockdown und in einer stiller werdenden Vorweihnachtszeit.

Mit und durch Lesen. „Literatur ist dazu da, die Sinne zu schärfen, nicht nur für die Literatur, sondern für das Leben selbst. Falls sie einen moralischen Auftrag hat, so ist es dieser: dem Leser zu sagen, das ist das Leben, das du hast, das einzige. Schau mal genau hin. Das ist nicht belehrend … es geschieht durchs Erzählen. Dadurch, sich mehr vorzustellen, als das Leben möglicherweise auf den ersten Blick zu bieten hat.“ (aus: „Das ist das Leben – eine Laudatio auf Richard Ford“ von Verena Lueken)

Literatur darf, Literatur soll irritieren, nicht als Schockerfahrung, sondern als Bereicherung.
Da hat es sehr gut gepasst, dass ich zufällig in einem meiner Lieblings-Apps auf einen Vortrag zum Thema gestoßen bin, der Vortrag der Nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie: „The danger of a single story“ (sehr gut verständlich und sogar mit deutschen Untertiteln).

Chimamanda Ngozi Adichie erzählt anhand ihrer eigenen Geschichte, wie schnell und umfassend das Denken in Stereotypen erfolgt. Aufgewachsen auf dem Universitätsgelände im Osten Nigerias ist sie ausschließlich mit britischen und amerikanischen Kinderbüchern und Literatur aufgewachsen, in der Folge gab es in ihrer Vorstellung in Geschichten nur hellhäutige, blauäugige Menschen, die sich über das Wetter unterhalten. Als sie Jahre später endlich afrikanische Literatur liest, irritiert sie die Vorstellung von dunkelhäutigen Menschen im geschriebenen Kontext und einer afrikanischen „Buch-Realität“. Sie bemerkt die Einseitigkeit der Bilder, die sie aufgebaut hatte und bemerkt mit Freude die Bereicherung ihrer Wahrnehmung und ihrer inneren Welt.

Der Vortrag hat weitere Aspekte, doch dieser ist mir sehr wichtig: dass wir die Schablonen, in denen wir denken zu oft gar nicht wahrnehmen.

Literatur ist dafür ein wunderbares Mittel, weil wir in eine ganze andere Welt eintauchen. Weil wir in ihre Komplexität eingeführt werden, die uns dazu bringt, unsere Wahrnehmung zu öffnen. Und weil Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren Werken gerade den Versuch starten, keine Klischees widerzugeben, sondern Feinheiten darzulegen, die Differenzierung ausmachen. Verdichtete Realität, dichte Worte.

Sie suchen ein Buch für die dunklen, stillen Abende? Eines, das mich zuletzt bewegt und berührt, meine Welt erweitert hat ist ‚Die Unschärfe der Welt‘ von Iris Wolff. Ein wunderbares Buch über eine Familie, über eine Frau und Mutter oder ihren Jungen, der ein Mann wird und losziehen muss, um seinen Freund zu retten. Die Sprache ist einfühlsam, fein und das Zusammenleben der Menschen im Banat (Siebenbürgen) während und nach dem Sozialismus bereichernd.

Iris Wolff sagt: „Ich glaube, dass Lesen oder Erzählen etwas mit Wagemut zu tun hat. Man verlässt die eigene Welt, in der die eigene Wahrnehmung vorherrschend ist, und jemand leiht einem in einem Buch die eigene Wahrnehmung. Das heißt, man erweitert letztendlich das eigene Leben. Man erfährt von Zeiten, die nicht eigenen sind, von gesellschaftlichen Systemen, die man nie erlebt hat. Und die Welt wird weiter, das heißt, das ist eigentlich eine Entgrenzung. Man sieht von sich selbst ab. Deswegen wird die Welt weit durch Literatur.“ (Iris Wolff im Gespräch mit Denis Scheck)

Iris Wolff zu ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“

https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/videos/druckfrisch-wolff-video-100.html