Dieser Spruch kam mir wieder in den Sinn, als ich heute zu Nadel und Zwirn griff. Ein Zitat aus dem Sprachfundus meiner fleißigen österreichischen Großmutter, die viel nähte und mit der ich vor vielen Jahren manches Stück fertigstellte. Jedes Mal, wenn ich nähe, denke ich seither an ihre Worte – und immer erinnere ich mich auch an meinen Gedanken als eigensinnige Jugendliche: „Warum und wozu öfter den Faden einfädeln? Lange Fäden und ich muss seltener einfädeln und weniger vernähen.“
Damals habe ich folglich öfter lange Fäden in die Nadel gesteckt, manchmal habe ich also beim Nähen mit zu langen Fäden Knoten geerntet, manchmal ging’s aber auch gut aus und dann war ich sogar schneller fertig. Heute schneide ich mir den Faden bewusst ab, schiebe einen kleinen Gedanken an meine Großmutter und an die richtige Länge für meine Näharbeit ein, bevor ich loslege. Und grinse in mich hinein, merke, wie die Worte von dem „faulen Mädchen“ in mir damals ihre Wirkung ausbreiten wollten: Bin ich nur ein braves, gutes Mädchen, wenn ich mich an den Satz halte, ich mir recht viel Arbeit mit vielen kurzen Fäden mache? Fleißig bin…
Sprüche gibt es viele, sehr viele Sprüche. Viele werden zu regelrechten Glaubenssätzen, die sich tief in unser Denken eingraben, die unser Fühlen und Tun leiten, uns helfen können, aber auch unsere Möglichkeiten einschränken: „Wer hoch hinaus will, kann tief fallen“, „Schuster, bleib bei deinen Leisten“, „Geld verdirbt den Charakter“, „Hochmut kommt vor dem Fall“, „Wer sich auf andere verlässt, der ist verlassen“ … und viele, viele mehr.
Natürlich hat jeder Spruch, auch jeder Glaubenssatz, irgendwo seinen Sinn in seinem jeweiligen Kontext und System (gehabt), so wie auch der Hinweis, den Faden nicht zu lange zu machen und sich dann mit unnötigen Knoten abzumühen, durchaus ergiebig sein kann. Aber sich von ihnen lenken lassen? – Tun wir’s lieber nicht!
Es lohnt sich, hinter seine unbewussten Gedankenläufe zu gucken: gibt es da eine tief wirkende Überzeugung, die mein Handeln, meine Gefühle bestimmt und lenkt? Was ist hinderlich, was blockiert mich, was treibt mich? Was ist tradiertes und was mein eigenes Denken?
Aber auch: Was ist weiterhin hilfreich? Was Ausdruck meiner persönlichen Ambivalenz? Denke ich flexibel genug?
Die Wirklichkeit, die wir vorfinden, ist doch sowieso viel zu bunt, zu vielfältig, um uns mithilfe eines Satzes den Weg zu weisen. Im Grunde gilt vieles, nahezu alles: Langes Fädchen, faules Mädchen. Langes Fädchen, kluges Mädchen… langes Fädchen, dummes Mädchen, langes Fädchen, fleißiges Mädchen, langes Fädchen, lustloses Mädchen…
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