Nun ist es bewiesen: unsere Kinder und Jugendliche sind nicht schlechter, dümmer, lascher als wir – im Gegenteil. Sie erfüllen sogar in zunehmendem Maße die Voraussetzungen, um ein erfolgreiches Leben zu führen. Und was noch bewiesen zu sein scheint: das Irren an den Jungen ist Teil einer Fehlwahrnehmung – schlichtweg ein Irrtum!

Foto: David Pereiras – Die Zeit

Es begann alles mit dem Marshmallow-Test: Bereits Ende der 60-er/Anfang der 1970-er Jahre führte Walter Mischel umfangreiche Studien zum Belohnungsaufschub durch: wie lange waren Kinder imstande auf das, was sie gerne haben würden, zu warten? „In Einzelsitzungen wurde den Kindern ein begehrtes Objekt vor Augen geführt, beispielsweise ein Marschmallow (in Varianten des Experiments wurden u.a. Kekse, Salzgebäck oder Pokerchips aus Plastik verwendet). Der Versuchsleiter teilte dem jeweiligen Kind mit, dass er für einige Zeit den Raum verlassen würde, und verdeutlichte ihm, dass es ihn durch Betätigen einer Glocke zurückrufen konnte und dann einen Marshmallow erhalten würde. Würde es aber warten, bis der Versuchsleiter von selbst zurückkehrte, erhielte es zwei Marshmallows. Hatte das Kind die Glocke nicht betätigt, kehrte der Versuchsleiter gewöhnlich nach 15 Minuten zurück. Die durchschnittlichen Wartezeiten der Kinder betrugen in verschiedenen Abwandlungen des Experiments ca. 6 bis 10 Minuten, streuten allerdings sehr stark um diese Mittelwerte.“ (aus: Wikipedia)

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Das aber eigentlich interessanteste an der Studie sind die Nachbeobachtungsstudien in den Jahren 1980–1981: Walter Mischel beobachtete nämlich, dass „je länger die Kinder im ursprünglichen Experiment gewartet hatten, desto kompetenter wurden sie als Heranwachsende in schulischen und sozialen Bereichen beschrieben, und desto besser konnten sie mit Frustration und Stress umgehen sowie Versuchungen widerstehen; darüber hinaus zeigten sie auch eine tendenziell höhere schulische Leistungsfähigkeit“ (aus: Wikipedia/Walter_Mischel)

Das Ergebnis: Die Fähigkeit zu Impulskontrolle und Belohnungsaufschub ist ein verlässlicher Prädiktor für späteren akademischen Erfolg und eine Reihe positiver Persönlichkeitseigenschaften“. (aus: Wikipedia/Belohnungsaufschub)

Der Marschmallow-Test wird regelmäßig wiederholt und in allen möglichen Varianten durchgeführt, immer mit vergleichbarem Ergebnis.

Nun hat ein gewitzter Forscher, der Psychologe John Protzko alle bisherigen Ergebnisse der Marshmallow-Studien der vergangenen 50 Jahre verglichen und die Entwicklung der Ergebnisse unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse zeigen eine klare Tendenz: die Kleinen warten immer geduldiger und zeigen mehr und mehr Selbstkontrolle, Selbstdisziplin (Research Digest: Children of today are better at delaying gratification than previous generations). Wer hätte dies gedacht? Und dies alles trotz der zunehmenden Ablenkung und vermeintlicher Abnahme der Konzentrationsfähigkeit.

(Übrigens: Belohnungsaufschub wird teilweise synonym mit den Begriffen Impulskontrolle, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle verwendet. Alle diese Begriffe beschreiben dabei die Fähigkeit, auf eine kleinere, unmittelbare Belohnung zu Gunsten einer größeren Belohnung in der Zukunft zu verzichten. (aus: Wikipedia/Belohnungsaufschub).

John Protzko ging noch einen Schritt weiter: Er fragte vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse Entwicklungspsychologen nach deren Schätzung zur Entwicklung der Selbstkontrolle der Kinder und Jugendlichen. Und: die Mehrheit irrte sich! Mehr als die Hälfte meinte, Kinder könnten heute eine Belohnung nicht mehr so gut aufschieben, ein weiteres Drittel erwartete keine Veränderung. Nur 16 Prozent glaubten an die Kinder. (Die Zeit: Warten? Geht doch)

Jüngere schlechtzureden scheine „eine Art kognitive Macke des Menschen“ zu sein, meint Protzko. Wir wissen noch nicht, wie es zur Verbesserung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle kommt. Doch: „contrary to historical and present complaints, kids these days appear to be better than we were. A supposed modern culture of instant gratification has not stemmed the march of improvement” (John Protzko).

Hier ein Gespräch von Walter Michel aus dem Jahr 2015 (Sternstunde Philosophie, 22.3.2015):

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Besonders interessante fand ich beim Nachlesen des Stoffs rund um Marshmallow & Co. den Beitrag der Psychologin Celeste Kidd, die dem Test eine neue Dimension gegeben hat: der Einfluss der Versuchsleiter/innen. Wenn der Versuchsleiter sich als unzuverlässig erweist – also zuvor etwas verspricht, das er später nicht hält, dann warteten die Kinder durchschnittlich nur drei Minuten, während Kinder, die nicht enttäuscht worden waren, zwölf Minuten aushielten – viermal so lange. Im klassischen Marshmallow-Test lagen die Zeiten bei im Schnitt sechs Minuten. Ein Hinweis über die Verlässlichkeit des Umfeldes kann also die Wartezeit verdoppeln – oder aber halbieren. (aus: Wer sich kontrollieren kann, ist erfolgreicher)

„Auf Belohnungen warten zu können spiegelt nicht nur die Fähigkeit eines Kindes zur Selbstkontrolle, es zeigt auch seinen Glauben an den praktischen Sinn des Wartens“, so Kidd. Denn Selbstkontrolle sei nur dann sinnvoll, wenn sie sich auch auszahle.

Wer gelernt hat, dass er danach mit leeren Händen dasteht, wird schneller zugreifen, wenn sich die passende Gelegenheit bietet. Selbstkontrolle entsteht also im komplexen Zusammenspiel von genetischen Veranlagungen, wie etwa dem Temperament des Kindes, und frühen Lernerfahrungen mit seiner unmittelbaren Umgebung. (Celeste Kidd)

Der Filmbeitrag mit Celeste Kidd: The Marshmallow Study Revisited