Ein Begriff, der auf den Punkt bringt, was wir alle mal mehr oder mal weniger tun: Wir entwickeln Stärken, die unsere Schwächen verbergen, sie wirkungslos machen sollen. Inkompetenzkompensationskompetenz. Mit ihr entwickeln wir die Strategie, aus der Situation das Beste zu machen. Und manchmal kommen wir damit sogar zum Ziel. Wie meine Sonnenblume.
Das Vogelhäuschen auf meinem Balkon hängt direkt über einem Blumentopf, so dass immer wieder Hafer, Weizen und andere Pflanzen zwischen den Rosen wachsen, weil die Vögel die Körner runterfallen liessen. Das war offenbar auch dieses Frühjahr wieder geschehen.
Vor einigen Wochen fiel mir auf, dass der Stengel einer Pflanze in diesem Topf seltsame Verrunkungen vollbrachte: Ihr Stiel wuchs über den Topfrand Richtung Boden – nach unten also. Falsche Richtung, hier läuft was verkehrt. Eine Pflanze wächst doch nach oben! Was war hier los? Wir wissen es nicht. Fakt: Das kann nicht gut gehen, das führt nicht zum Ziel.
Das ging aber doch noch ein Weilchen so weiter: die Pflanze wuchs weiter senkrecht in die Tiefe. Bis sie dann irgendwann doch offenbar ihre Inkompetenz „bemerkt“, ein Notprogramm gestartet und ihre Wuchsrichtung verändert hat.
Meine Sonnenblume hat glücklicherweise noch die Kurve gekriegt. Sie hat einen starken hölzernen Ansatz entwickelt und ihren Stiel mit einer zweiten Biegung wieder Richtung Himmel geführt. Echt stark, wow! Sie bildete dann eine wunderschöne Knospe, die geradewegs in die Sonne blickte. Die Knospe wuchs heran, als wäre nichts schief gelaufen, als hätte es gar kein Problem gegeben. Schließlich öffnete sich die Sonnenblume, seither blüht sie prächtig. Und wenn man nicht genau hinsieht, dann bemerkt man auf meinem Balkon gar nicht, dass es da eine Pflanze gibt, die zu scheitern drohte. Die ihre „Inkompetenz“ mit großem Einsatz überwunden hat um ihr Ziel doch noch zu erreichen. Jetzt leuchtet ihre strahlende Blüte, nährt die Bienen und wird neue Sonnenblumenkerne ausbilden. Alles doch noch gut geworden.
Ich muss an den Designer im Coaching denken, der in die Selbstständigkeit gegangen war, weil er lieber alleine statt mit anderen zusammenarbeitete. Er hatte seine „Inkompetenz zur Zusammenarbeit“ durch die Selbstständigkeit geschickt und viele Jahre erfolgreich kompensiert. Soweit so gut, eine (fast) virtuose Strategie.
Aber: Diese Inkompetenzkompensation war zu meisterhaft, sie hatte ihn gleichzeitig in die Einsamkeit getrieben. Er wollte doch wieder in einem Team arbeiten, gemeinsam Ideen entwickeln, größere Projekte stemmen und zusammen Erfolge feiern. Er machte also eine Kehrtwendung, bewarb sich in einer spezialisierten Agentur, verliess seine Kompetenz-Komfortzone der „Anti-Kommunikation“ und startete eine neue Etappe in einem kleinen Team. Das Know-how, das er in der Selbstständigkeit aufgebaut hatte, konnte er im neuen Umfeld einbringen, die Kompetenz des „Alles-mit-sich-selbst-Ausmachens“ wollte er lieber nicht noch weiter perfektionieren.
Seine Inkompetenz kannte er jetzt ziemlich gut und wusste: Zukünftig würde er anders mit ihr umgehen. Aktiv.
Ich denke auch an die selbstkritische Führungskraft, die ihren hohen Anspruch an sich und ihre Arbeit im Lauf der Jahre zu einer exzellenten Expertise entwickelt hat. Bevor sie aber so weit gekommen war, stand ihr die Inkompetenz mit Kritik und Fehlern umzugehen, mächtig im Weg – und schließlich zur Seite. Aber eigentlich sollte ich besser sagen: Sie saß ihr im Nacken.
Die Forschungsleiterin hatte Angst vor Kritik, Fehler waren ein Desaster und die Furcht zu Scheitern ein omnipräsenter Antrieb, der sie Tag und Nacht vor sich hertrieb. Sie hatte aus ihrer Schwäche eine Strategie des Perfektionismus, eine neue Kompetenz, gemacht. Doch irgendwann war’s zu viel: Der ständige Druck lastete auf ihr, belastete sie inzwischen stark, die Freude an ihren Erfolgen war einer permanenten Sorge und Belastung gewichen.
Die Kompensation der Inkompetenz war zwar perfekt geglückt – der Preis war aber zu hoch geworden.
Mit Übung und kleinen Schritten lernte sie mit Imperfektionismus umzugehen, die Dinge ins Verhältnis zu setzen und ihre Prioritäten neu zu definieren.
Ende gut, alles gut: Sie entspannte zunehmend, konnte ihren Erfolg genießen und strahlte nun Souveränität und Zufriedenheit aus – die Ernte ihrer Inkompetenzkompensation war gut. Gerade noch die Kurve bekommen. 🙂
Der Begriff der Inkompetenzkompensationskompetenz stammt von Odo Marquard. Der hat mir spontan sehr gut gefallen, auch wenn etwas sperrig und „verdreht“.
Aber manchmal sind ja auch wir „verdreht“. 😀
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