Heute las ich einen kurzen Text von Franz Kafka, die Legende Vor dem Gesetz, die auch als Türhüterlegende oder als Türhüterparabel bekannt ist.
Ein starker, eindrucksvoller Text, der auf nur einer Seite die Geschichte eines Mannes erzählt, der sein ganzes Leben vor der Türe zum Gesetz wartet, nachdem der Türhüter ihm sagte, diese sei versperrt und überhaupt kämen nach ihm weitere, noch stärkere Türhüter vor weiteren, größeren Türen. Der Mann wartet sein ganzes Leben vor der Türe auf Einlass, und erst am Ende seines Lebens – erst als er fragt, warum niemand außer ihm, hier gewartet hat, – erfährt er: „… dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

Bedrückend diese Geschichte, lächerlich, vieldeutig.

Da hat sich der Mann täuschen lassen, er hat geglaubt, was sich ihm vordergründig darstellte; hat es nicht hinterfragt, sondern angenommen, was ein anderer ihm sagte.
Und so sein Leben, im Schutz seiner Überzeugung, gelebt, es verschwendet.

Unweigerlich muss ich an den Umgang mit Glaubenssätzen denken: wir glauben, dass wahr ist, was wir in unseren Gedanken fabrizieren. Und das sind oft genug sehr vordergründige „Wahrheiten“. Wahrheiten, die andere uns aufgedrängt haben, Überzeugungen, die wir aufgebaut haben:

  • „Ich hab immer Pech.“ – „Ich kann nicht rechnen.“ – „Ich schaffe das nicht.“
  • „Ich bin zu empfindlich, ich darf mir nicht so viel zumuten.“ – „Ich kann das nicht.“
  • „Mit neuen Situationen tue ich mir schwer.“ – „Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.“ – „Ich brauche Sicherheit.“
  • „Andere wollen dir nichts Gutes, anderen zu vertrauen ist leichtsinnig.“ – „Die menschliche Natur ist egoistisch und böse.“ – „Im Leben braucht man Ellenbogen.“
  • „Geld macht arrogant.“ – „Geld muss man sich hart erarbeiten.“ – „Reiche haben andere übervorteilt, Reichtum kommt nicht von ungefähr.“
  • „Frauen können nicht sachlich reden.“ – „Frauen sind schwach.“ – „Frauen sind die besseren Hälften.“
  • „Wo kämen wir hin, wenn jeder das machen würde, was ihm Spaß macht?“ – „Das Leben ist kein Wunschkonzert!“ – „Was sollen die Leute da von uns denken?“
  • „Ohne Fleiß, kein Preis.“ – „Dem Fleißigen gehört die Welt.“ – „Der frühe Vogel holt den Wurm.“
  • „Andere um Hilfe zu bitten, ist ein Zeichen von Schwäche.“ – „Wer fragt gewinnt.“
  • „Wer Fehler macht ist dumm und wird versagen.“ – „Wenn du einen Fehler machst, dann lachen die anderen dich aus.“ – „Ich muss immer perfekt sein. Fehler sind schlimm.“
  • „Ich bin nur gut, wenn ich jedem helfe, der Hilfe braucht.“ –
  • „Macht schadet dem Charakter.“
  • Und, und, und… dies sind einige Beispiele Glaubenssätze.

Glaubenssätze sollen uns anfangs eine Richtung geben, sollen uns erklären, wie die Welt funktioniert. Und als solche Wegweiser nehmen wir diese– meist als Kind bereits – gerne an, machen diese zu Leitsätzen für unsere Wahrnehmung und für unser Verhalten.

Aber die Welt ist so, wie die angebliche Wahrheit, die sie abbilden, aber sie ist auch anders. Der Leitsatz in unserem Kopf bleibt. Autsch! Aber anstatt zu bemerken, dass das, wovon wir ausgehen, nicht stimmt und uns in die Irre geführt hat, wir unsere Annahme überdenken und evtl. verändern sollten, halten wir an ihr fest, ärgern uns, sind irritiert, zweifeln an uns, an den anderen, an der Welt… stellen vieles an, um uns zu beweisen, dass unsere (angenommene) Wahrheit stimmt. Dafür sind wir sogar bereit, unsere Wahrnehmung so zu konstruieren, dass wir den Beweis unseres Glaubenssatzes wiederfinden.
Und werden uns schließlich bestätigt finden: „Hab ich’s doch gewusst; ich hab halt immer Pech!“, wenn mir der Bus vor der Nase fährt, wenn ich keine Gehaltserhöhung bekomme, wenn es mit der neuen Stelle nicht geklappt hat, wenn … Sehr trügerisch! Umso mehr, als wir dann in Folge dazu neigen werden, andere Erfahrungen schlicht nicht wahrzunehmen, keine Gegenbeweise für unsere Vorannahme gelten zu lassen – wir würden unsere Wegweiser verlieren, verlören mit ihnen unsere Gewissheit(en). Und dann? Wir müssten anfangen nachzudenken, genau hinzugucken, uns selbst und die Situation in Frage zu stellen, beständig offen bleiben für die gerade stattfindende Konstellation. Anstrengend…

In der Legende von Franz Kafka glaubt der Mann sofort was er sieht, nimmt das Gesagte als gegeben hin, kämpft nicht für sein Recht, nicht für seinen Durchlass, sondern versucht nur halbherzig, den anderen zu gewinnen, ihm zu erlauben, Einlass zu bekommen. Damit gibt er dem anderen die volle Macht ab und die gesamte Verantwortung über sein Leben.

Zwar hat er hin und wieder versucht, Einlass zu bekommen, hat den Türhüter beschenkt, ihn bestochen und verflucht, doch fehlt ihm die wirkliche Überzeugung, die Willenskraft. Statt dessen wird er Opfer seiner Leichtgläubigkeit und seiner Autoritätsfurcht. Das ‚Nein!‘ einer Instanz reicht, seine Schritte zu bremsen, sein Vorhaben zum Stillstand zu bringen.

Wie oft haben Glaubenssätze das Zeug, das Ziel gar nicht zu suchen? Es nur leichtgläubig und halbherzig zu versuchen, uns beim ersten Hindernis ins Wanken zu bringen? Dabei gibt es sinnvolle Möglichkeiten, die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen, deren Gültigkeit im Allgemeinen und im Besonderen in Zweifel zu ziehen und hilfreiche Verstärker zu finden.

Glaubenssaetze behindern unsere MoeglichkeitenMithilfe der Fragetechnik von Byron Katie (The Work) z.B., werden 4 Fragen gestellt, die die Gültigkeit der Überzeugung abklopfen, die Umkehrung ergibt neue Erkenntnisse: Das, was du gerade denkst, glaubst, fürchtest…

Ist das wahr?
Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?
Wie reagierst du (was passiert in dir), wenn du diesen Gedanken glaubst?
Wer wärst du ohne den Gedanken?

Anschließend wird der Gedanke umgekehrt und verschiedene neue „Wahrheiten“ ausprobiert: „Ich hab immer Pech.“ –> „Ich habe kein Pech.“ – „Andere haben auch Pech.“ – „Ich habe immer Glück.“ – „Ich habe manchmal Glück und manchmal Pech.“ Es ergeben sich ganz neue Kombinationen der „Wahrheit“ und diese führen mich zu ganz neuen Gedanken und Ideen.

Wir können auch die Glaubenssätze zunächst einteilen in hilfreich und destruktiv, um sie dann in ihrer noch möglichen Gültigkeit zu überprüfen. Mithilfe von Umkehrung, Relativierung, Anpassung entwickeln wir diese weiter. Ich kann sogar entscheiden, meine Glaubenssätze als nicht mehr sinnvoll loszulassen.

Was wäre passiert, wenn der Mann in unserer Geschichte dem Türhüter gesagt hätte, dass er selber sehen möchte, wie weit er kommt? Wenn er sich die Größe gegeben hätte, das Gesagte in Frage zu stellen? Wenn er auf sein Recht gepocht hätte, das Gesetz für sich in Anspruch zu nehmen? Wenn er die Konsequenz gezogen hätte und an einem anderen Ort gesucht hätte? Wenn er jemand anderes befragt hätte? Wenn er … Wenn er sein Schicksal in die Hände genommen hätte, statt dieses in die Hände des anderen zu legen?