„Ich habe vor einigen Jahren gemerkt, dass ich ein Grundgefühl des Mangels habe“, sagte die Frau neben mir zu ihrem Gesprächspartner.

„Meistens habe ich zunächst Angst, dass ich zu kurz kommen könnte. Inzwischen weiß ich es und überprüfe die Situation, bevor ich reagiere; weil es vielleicht in dem Moment nicht stimmt und ich gar nicht zu kurz gekommen bin.“

Oh… was für eine beeindruckende Ehrlichkeit! Und was für eine Weisheit. Ich saß beim Frühstück in der Hotellobby, die beiden Sprechenden am Tisch neben mir. Es war gerade recht ruhig um uns herum geworden und so hatte ich ihre Worte gehört. Das weitere Gespräch verlief wieder ohne mich, ich hing jetzt meinen Gedanken nach, beeindruckt von der Offenheit, mit der die etwa 40-jährige Frau sprach. Offenbar waren sie und ihr Gegenüber sich vertraut, wenn auch nicht sehr gut bekannt und sie ging bemerkenswert mit ihrer Schwäche um. Ob ich so empfänglich für ihre Selbstanalyse war, weil ich an diesem Tag wieder zu den Studierenden der Uni zu Köln gehen sollte, wo wir nach der Analyse u.a. der eigenen Stärken – und Schwächen – nun heute über Positionierung und Selbstmarketing sprechen würden? Wie dem auch sei, den Satz dieser Frau nahm ich mit.

Und der Satz regte sich noch ein Weilchen in meinen Gedankenbahnen…
Es gibt diverse Grundgefühle, mit denen wir unsere Welt betrachten. Das Grundgefühl unseres Lebens ist wie eine Brille, durch die wir unser Erleben sehen: es legt sich zwischen unserer Außenwelt und uns und beeinflusst direkt unsere Gefühle und Empfindungen.

Wie gut ist es, dies selbst zu erkennen! Erst dann nämlich kann ich meine eigene Wahrnehmung überprüfen und entsprechend die Interpretation des Erlebten dahingehend beeinflussen, dass sie nicht mehr quasi „automatisch“ auf der Basis des Grundgefühls abläuft – und so kann ich dann meine Handlung, meine Reaktion verändern.

Es gibt verschiedene Tönungen des Grundgefühls:

  • ein Grundgefühl des Ärgers,
  • ein Grundgefühl der Schuld,
  • ein Grundgefühl nicht genug Anerkennung zu bekommen bzw. nicht gesehen zu werden,
  • ein Grundgefühl der Einsamkeit und des Alles-alleine-bewältigen-Müssens,
  • ein Grundgefühl des Mangelns und des Zu-kurz-Kommens und damit, für sich kämpfen zu müssen,
  • ein Grundgefühl, im Wettstreit zu sein und der/die Beste sein zu müssen,
  • ein Grundgefühl der Angst und der Verunsicherung,
  • ein Grundgefühl der Kränkung,
  • ein Grundgefühl, nicht gut genug zu sein.

Aber es gibt natürlich auch „neutrale“ oder „positive“ Grundgefühle, wie

  • das Grundgefühl von Zuversicht und Vertrauen,
  • das Grundgefühl der Freude,
  • das Grundgefühl, mit dem Leben zurecht zu kommen, auch wenn es manchmal schwierige Zeiten sind,
  • das Grundgefühl der Offenheit und der Neugierde für Neues.

Wie gut, dass wir die Brille vor unserer Wahrnehmung erkennen, putzen – und sogar erneuern können!