Es gab eine Zeit, da war ich nett und freundlich, die Höflichkeit, die mir als Kind beigebracht wurde, galt als Verhaltenskodex Nummer 1, Bescheidenheit und Zurückhaltung zählten ebenso dazu, wie Zuvorkommenheit, Ehrlichkeit und Offenheit.
Dann wurde ich groß und lernte: Wenn du nett bist, nimmt man dich nicht ernst. Wenn du freundlich bist, dann wirst du übervorteilt. Wenn du bescheiden bist, dann wirst du unterschätzt und wirst nicht für voll genommen. Deine Kompetenzen und deine Fähigkeiten werden nicht berücksichtigt, aber auch nicht deine Wünsche und Ziele.
Ich wurde nicht nett, ich lernte, für mich und meine Interessen einzutreten, ich lernte meine Kompetenzen darzustellen und den Kampf des Alltags zu kämpfen. Ich lernte mich durchzusetzen.
Eines Tages sah ich nun, dass dieses Know-how eine eigene Dynamik angenommen hatte: ich war nicht nett, ich setzte mich in Situationen durch, in denen ich gut und gerne jemandem den Vortritt hätte geben können, ich bemerkte, dass an die Stelle von Großzügigkeit und Aufmerksamkeit eine seltsame Befürchtung eingetreten war, nicht zum eigenen Recht zu kommen. Wettbewerb und Einzelhandeln waren eine der Säulen des Denkens geworden. Wie befremdlich!
Nun kommt der Tag, da werde ich wieder nett und freundlich, da werden Höflichkeit und das Sorgen um das Wohlbefinden meiner Umgebung Nummer 1 meines Verhaltens. Da wird es mir egal, ob andere mich unterschätzen. Da wird es mir egal, wenn ich mal den Kürzeren ziehe, weil ich weiß, dass ich für mich und meine Interessen eintreten kann, aber nicht muss. Dass ich es nicht unter Beweis stellen muss, was ich kann und mache, weil ich es kann und weil ich es tue.
Das ist der Tag, an dem meine Souveränität geboren wird, der Tag, an dem meine innere Autorität stark genug geworden ist, um bescheiden und zurückhaltend zu sein; sie kann dann aus sich heraus strahlen, einfach so.
Dann werde ich mich nicht mehr durchsetzen müssen, stark sein müssen, denn meine Präsenz, meine Erfahrung, meine Worte und Taten werden überzeugen. Und das wird dann richtig nett – für andere und für mich.
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