„Mädchen schneiden bei Tests schlechter ab, wenn ihr Aussehen ins Spiel gebracht wird, dünne Frauen verdienen mehr als dicke.“ Was lese ich da? Das klingt doch absurd, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Susie Orbach – eine Psychoanalytikerin, deren Thesen ich aus meiner Studienzeit kenne – und Meaghan Ramsey im Interview: „Gegen die Perfektion“ (Süddeutsche Zeitung, PlanW: September 2017).

Das Gespräch beleuchtet die Fixierung auf das Äußere und auf die eigene Wirkung. Erfolgreiche Menschen sind schlank und schön, so ließe sich die Formel verkürzen; die permanente Wahrnehmung eines Ideals gräbt sich tief in uns ein und wird auch auf Dritte übertragen.
Dieses Ideal ist „… unglaublich wichtig geworden…, weil es heute in so vielen Bildern transportiert wird. Vor zehn Jahren sah man geschätzt 5.000 digital bearbeitete Bilder von Körpern pro Woche. Heute sind es so viele, dass wir es gar nicht mehr schätzen können. Das verändert die Menschen.“

Ich lese weiter und höre im Internet bei meinen geliebten Ted Talks den Vortrag von Meaghan Ramsey „Why thinking you’re ugly is bad for you“ (Sich für „hässlich“ zu halten, ist ungesund). Kinder und Jugendliche verbringen mehr Zeit damit, sich um ihr Äußeres zu kümmern, anstatt sich mit anderen Bereichen ihres Lebens zu beschäftigen und ihre Identität darüber zu erproben und aufzubauen; Familie, Freunde, Hobbys, Sport, Schule kommen zu kurz. Damit erhält das Aussehen eine unverhältnismäßig große Bedeutung, Unzufriedenheit ist vorprogrammiert und führt zu Unsicherheit und einem geschwächten Selbstbewusstsein. Und dies findet wohlgemerkt unabhängig vom realen Äußeren statt, es geht allein um das selbst erlebte, empfundene Äußere. Womit die Bilder (s.0.) eine umso größere Rolle spielen.

Ein Klick weiter und ich höre – und sehe – mit Spannung und Begeisterung den durchaus sehr humorvollen, aber tollen Vortrag des Models Cameron Russell „Looks aren’t everything. But believe me, I’m a model“. Kritisch erzählt sie über ihr Leben als Fotomodell und betont, nachdem sie sich auf der Bühne innerhalb weniger Sekunden von der sexy Schönheit in eine junge Frau verwandelt: Mein Aussehen ist bloße Konstruktion, das bin nicht ich. Sie fordert zu mehr Distanz und Kritik gegenüber dem Äußeren auf und erzählt berührend von ihrer Zwickmühle, denn ihr gesamter Erfolg beruht einzig auf ihrem Äußeren und den Bemühungen einer verrückten Schönheits- und Modeindustrie.

Während ich in meiner freien Zeit diese Artikel lese, Vorträge höre, meine Mittagspause damit verbringe, ein Geschäft zu finden, das im Lehel Feinstrumpfhosen verkauft, – mein Strumpf hat eine Laufmasche! – , könnte es durchaus sein, dass ein Kollege seine Freizeit damit verbringt, Neues aus Politik und Wirtschaft zu erfahren, sich mit anderen auszutauschen oder in Ruhe zu essen.

Ich weiß jetzt aber, warum dünne Frauen mehr verdienen: weil deren Erscheinung den Eindruck von Disziplin, Kontrolle, Klarheit vermittelt, Eigenschaften, die mit Führungsstärke assoziiert werden. Das Kritische dabei: dieses Klischee wird zur Grundlage für die Beurteilung der Leistung. Und wird verstärkt, wenn Mädchen und (junge) Frauen, sich abverlangen schlank(er) zu sein, weil sie diese Bilder von Erfolg und Leistungskraft übernommen haben.

Und was ich jetzt auch noch weiß: im Lehel gibt es keine Droguerie.

{Alle Fotos aus dem Vortrag von Cameron Russell „Looks aren’t everything. But believe me, I’m a model“}