Lange Zeit war ich Idealistin. Ich glaubte unbedingt an das Gute im Menschen und Werte waren die Leitlinie meines Lebens. Und wie ich dachte: auch für andere. Doch ich habe mich eines anderen, schlechteren, belehren lassen.

Sehr gut erinnere ich mich an den Tag, an dem ich mit meinem damals knapp 1-jährigen Sohn am Rand des Sandkastens an der St. Johanneskirche in Haidhausen spielte. Wir hatten eine Freundin besucht und auf dem Nachhauseweg diesen kleinen Abstecher gemacht. Zufällig war auch Carola da, eine Teilnehmerin aus der Theatergruppe, in der ich Jahre früher mal mitgespielt hatte. Carola war gut 10 Jahre älter als ich, Schauspielerin, und ebenfalls mit ihrem Kind hier. Ich bemerkte sie, als ich eine kräftige Stimme hörte, die ihrem Kind sagte: „Das ist böse von dem Mädchen! Du kannst dir die Schaufel zurück holen.“ Diese Worte durchfuhren mich regelrecht: Darf man über einen anderen Menschen sagen, dass er oder sie böse ist? Carola sah mich jetzt auch und in meinem Gesicht das Erschrecken. So erklärte sie sich: „Manche Menschen sind einfach böse und ich möchte, dass meine Tochter lernt, sich dagegen zu wehren.“

Zerstoerter Idealismus - es gibt boeses Verhalten

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Gerade weil ich Carola kannte und schätzte, löste dieses Erlebnis in mir eine größere innere Diskussion aus. Und es gab mir die Möglichkeit, nicht gleich – wie ich es ansonsten getan hätte – meine Nase zu rümpfen und dieses Verhalten als schlecht, als unredlich, unmoralisch zu veruteilen. Die Idealistin in mir war in ihrem Glauben erschüttert, stimmt. Aber eigentlich war da ja wirklich etwas dran: Man muss sich wehren dürfen und manches Verhalten ist schlichtweg inakzeptabel. Vielleicht war mein durchweg positives Bild des Menschen nicht vollständig. Denn mit meiner eindimensionalen Sicht konnte ich selber nicht ärgerlich und wütend – boese – sein. Und damit durfte ich mich auch nicht adäquat gegen Unrecht wehren. Immer Verständnis haben, die zweite Backe hinhalten, das konnte doch keine umfassende Handlungsempfehlung für ein kleines Menschlein sein. Mein Bild begann zu bröckeln: Mein Sohn sollte sich wehren dürfen.

Und ich erkannte, dass alles wesentlich komplexer und schwieriger ist. Dass manche Menschen Ideale und Werte haben, an denen sie ihr Handeln ausrichten – das mag manchmal gut und manchmal hilfreich sein. Aber machmal auch begrenzend und nicht „vollständig“. Denn es gibt auch Momente, die wir Egoismus nennen, Dominanzbedürfnis, entfesselte Gefühle wie Schadenfreude, ungezügelter Neid, mörderische Eifersucht, aber auch Machtwille um jeden Preis, Rache, Sadismus, Zerstörungswut. Autoritarismus, Faschismus, …
Wir können nicht alles erklären, manches wollen wir nicht verstehen. Und doch ist es da: Mehr denn je, erleben wir jetzt das Böse.
Währet den Anfängen…

Vielleicht bin ich eine ernüchterte Idealistin? Ich denke, ich bin jetzt eine idealistische Realistin. Das Gute gibt es weiterhin, manchmal verborgen, manchmal offensichtlich. Wir müssen das Gute nur manchmal suchen, es finden, es wertschätzen… und diesen Wert hüten und schützen – mehr denn je!

 

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