Das sind provozierende Thesen, die ich da gelesen habe. Über einen Kommentar zu meinem letzten Blog- und Facebook-Post „Wie soll ich mich entscheiden?“ habe ich den Link zu einem Interview mit dem Historiker Professor Theodore Zeldin von der Universität Oxford bekommen. Ihm zufolge hält Achtsamkeit und auch jede Meditationsübung die Menschen vom Denken ab – und damit auch davon, die Probleme der Welt zu lösen. Lesen Sie selber:
„Jeder kann tun und lassen was er will, aber ich kann Ihnen erzählen, warum ich Achtsamkeit nicht befürworte und für kontraproduktiv halte. Achtsamkeit muss regelmäßig praktiziert werden, es ist keine Kur, sondern wie ein Tranquilizer, den man jeden Tag einnehmen muss. Ein Problem an „Mindfulness“-Konzepten ist, dass es das Wissen der Welt nicht vermehrt. Und ohne Wissenszuwachs kann man die Probleme dieser Welt nicht bewältigen.
… Man kann hinausgehen, um die Welt zu verbessern. Oder man kann meditieren und sich vor der Welt und ihren unerwünschten Effekten verstecken. … Das Ziel von Achtsamkeit ist es, mehr über sich selbst zu erfahren, und nicht über andere. Ich denke aber, dass es unmöglich ist, sich selbst zu kennen. Wenn man sich nur auf seine eigenen Probleme konzentriert, limitiert das, und es steht im Gegensatz zu Bildung. Es löst nicht die Ursache der Probleme, die man bekämpfen will. …
Mindfulness blendet diese großen zivilisatorischen Probleme aus, und es verstümmelt das Erbe einer indischen Tradition. Die Mindfulness-Erfinder – unzufriedene amerikanische Hippies – haben mit Meditation ein Element des Buddhismus herausgepickt. Aber das, was die buddhistische Lebensweise ausmacht, haben sie eliminiert: Das Leiden zu akzeptieren oder Verzicht und die Notwendigkeit, sich dem weltlichen Leben zu entziehen. Diese ganze Philosophie wurde ausgespart, und stattdessen haben sie amerikanische Ideen daruntergemischt, etwa das Ziel, reich zu werden. … Achtsamkeit ist eine Ablenkung, fast wie die Unterhaltungsindustrie, fast als würden wir abends Fernsehen um zu vergessen, wie öd unser Arbeitsalltag ist. …
Doch die Idee, dass Menschen in einem Sessel sitzen und kreativ werden können, ist falsch. Menschen werden schöpferisch durch Interaktionen mit anderen Menschen, wenn sie sich Wissen außerhalb ihres Bereiches aneignen. …
Anstatt zu fragen „Wer bin ich?“ sollte man jedoch fragen: „Wer bist du?“. Und dabei keine Angst haben. Anstatt Konsens als Ziel vor Augen zu haben, sollten wir akzeptieren, dass es Unterschiede gibt. Alle wissenschaftlichen Errungenschaften wurden erzielt, indem man die Dinge nicht als das hinnimmt, was sie vorgeben zu sein. Man findet neue Lösungen nur, indem man mit anderen Menschen spricht. Für mich ist Konversation ein gutes Instrument, um sich von sich selbst zu befreien. … Mit Donald Trump als US-Präsidenten sind die Probleme der Welt sehr dringlich, und auch beim Brexit sehen wir: Es braucht nur wenige Wähler, und es ist vorbei. Wir brauchen neue Lösungen und dürfen uns nicht vor der Welt verstecken. („Achtsamkeit ist ein Tranquilizer“, ein Interview von Bettina Figl mit Prof. Theodore Zeldin, Wiener Zeitung vom 29.04.2017)
Was meinen Sie? Mir gehen beim Lesen verschiedene Gedanken durch den Kopf:
- Meditation und der Versuch, sich selbst zu kennen, können nicht mit der endlosen Beschäftigung mit sich selbst gleichgesetzt werden. Hier werden eine Methode und deren Anwendung gleichgesetzt. Nicht, weil einige Menschen Autofahren nutzen, um „die Sau rauszulassen“, ist Autofahren an sich „die Sau-Rauslassen“
- Herr Zeldin spinnt die Illusion, es gäbe eine ideale Welt ohne soziale Not, weil viele Menschen sich nicht Missständen widersetzen, sondern sich lieber mit sich selbst beschäftigen. In vielen Kulturen werden die von Herrn Zeldin genannten Formen der Meditation nicht praktiziert, diese sind weder schlechter noch besser beim Lösen ihrer Probleme. Und 0bwohl ich mich zu den Idealisten und Optimisten zähle, bin ich nicht der Ansicht, dass es eine ideale Welt jemals geben wird, wenn wir alle krampfhaft an der Problemlösung arbeiten – das könnte zum Krampf führen.
- Das Gespräch zeichnet alles sehr pauschal und in einem verallgemeinerten Schwarz-Weiß-Denken: man kann hinausgehen, um die Welt zu verbessern – oder man kann meditieren und sich vor der Welt und ihren unerwünschten Effekten verstecken. Diese Gegensatzbildung ist plakativ und populistisch.
- Im Austausch mit dem Du, im Diskurs, erhalten wir Impulse, können wir uns inspirieren lassen, doch für die Entfaltung von Kreativität brauchen wir Distanz und Reflektion. Der Diskurs an sich löst keine Probleme und ist an sich nicht kreativ.
- Persönliche Kraft tanken, in sich Ruhe und Kraft finden, um präsent und aktiv in der Welt zu sein, das können auch Sinn und Zweck der Meditation sein. Wozu ich diese Kraft und Präsenz nutze, ist eine Frage der Persönlichkeit, der Werte und des Selbstverständnisses, hat aber mit der Meditation per se nichts zu tun.
- Und ganz allgemein gefragt: Inwiefern drücken die Mindfulness-Angebote nicht auch ein tiefes Bedürfnis nach Spiritualität und Verbundenheit (im ursprünglichen Wortsinn Re-ligio) aus?
Für mich sind Meditation und Achtsamkeitsübungen eine Stärkung des Geistes. Und just bevor ich das Interview in der Zeitung las, habe ich in meinen Unterlagen die „Desiderata“ wieder gefunden, eine gute Antwort:
Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann.
Bei einem gesunden Maß an Selbstdisziplin, sei gut zu dir selbst.
Darum lebe in Frieden mit Gott, welche Vorstellung du auch von ihm hast.
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